
Klarer Fall von Binsenweisheit: Im
Internet gibt es nichts, was es nicht gibt, schon gar nicht im
Hinblick auf Sex. Meistens wird das mit einem gewissen Bedauern
beäugt, weil die jetztigen und nachfolgenden Generationen wohl nie
wieder so „unschuldig“ mit dem Thema Sexualität umgehen werden
wie wir Thirtysomethings von heute vielleicht gerade noch so eben
(bei uns hieß es immerhin auch schon, dass das Privatfernsehen und
die Werbung uns „verdorben“ haben, aber wer hätte geahnt, wie
harmlos das alles noch war...). Gleichwohl, wenn man drüber
nachdenkt, war früher nun wirklich nicht alles besser, ganz
bestimmt nicht in sexueller Hinsicht. Ein Beispiel: Wer noch in den 80er und den frühen
90er Jahren sein Coming Out als Schwuler oder als Lesbe hatte, fühlte
sich in der Regel allein mit sich und diesen Gefühlen. Heutzutage
ist es relativ einfach, an Informationen zu kommen und Kontakte zu
knüpfen. Dass daran natürlich auch wieder ganz neue Gefahren
gekoppelt sein können, lassen wir mal außenvor.
Kurz gesagt: Das Medium als solches
bringt weder per se Schlechtes noch durchweg Gutes zutage, aber es
hat die Welt verändert. Und während früher Scham und Scheu der
Probanden Untersuchungen über Sexualität beeinflusst haben, haben
sich die beiden Neurobiologen Sai Gaddam und Ogi Ogas
repräsentativerer Quellen wie z.B. der
Suchwörter im Internet bedient, um ihre Thesen zu untermauern. Das
Ergebnis ist der vermutlich umfassendste Versuch, die Beschaffenheit
des menschlichen Begehrens zu begreifen.
Ein wenig habe ich ja befürchtet, dass
ich mich über dieses Buch ärgern würde. Denn oftmals sind mir
soziobiologistische Forschungsergebnisse zu sehr den
Geschlechterklischees aus der Steinzeit verhaftet. Daran ist meiner
Meinung nach nicht die Biologie an sich schuld, sondern der
Wissenschaftler, oftmals männlich, der hier die Rückschlüsse
zieht. Es ist eine Sache, unsere Hormone für etwas verantwortlich zu
machen, und eine andere, Geschlechterzuordnungen durch
Steinzeitklischees derart zu zementieren, dass es in der heutigen
Welt absurd erscheint.
Erfreulicherweise wird hier sehr wenig
und sehr vorsichtig gewertet - schon gar nicht moralisch - und im Vorwort betont, dass
Statistiken immer nur Durchschnittswerte wiedergeben und nicht auf
jedes Individuum zutreffen (gut, auch das ist zwar wieder eine
Binsenweisheit, sollte man meinen, doch erinnere ich mich noch ungern
und lebhaft an die begeisterten Leserinnen und Leser des Ehepaars
Pease, die uns auf achso unterhaltsame Weise weismachen wollten, dass
Männer nicht zuhören können und Frauen schlecht einparken, weil
das schon in der Steinzeit so war. Also jedenfalls seit
Steinzeitautos gab. Wahrscheinlich.)
Nun finde ich es interessant, dass
ausgerechnet ein Autorenteam, das aus zwei Männern besteht, sich
nicht damit abfindet, die riesengroße Porno-Männerwelt zu
untersuchen und das weibliche Begehren damit unter „ferner liefen“
behandeln. Ich hätte mich nicht darüber gewundert, und vielleicht
nicht mal auf den ersten Blick darüber geärgert, wenn es so gewesen wäre, denn die eher
männlich geprägte Pornoindustrie ist es ja, die uns die ganze Zeit
anschreit „Klick! Mich! An!, die allgegenwärtigen Pop-Up-Fenster
und blinkenden Seitenbalken mit nacktem Fleisch.
Doch die Suchwörter geben ein relativ
geschlechtsneutrales Bild ab, in der auch Frauen nach expliziten
Inhalten suchen, nur eben anders. Und hier wird’s dann richtig
interessant, finde ich. Viele Frauen, das weiß man ja, können mit
„klassischer“ Pornographie nichts anfangen. Auch dann nicht, wenn
das „Objekt“ ein Mann ist. Gleichwohl haben auch die
wohlwollenden feministischen Ansätze mit Plot oder Kuschelszenen nur bei wenigen ein Prickeln erzeugt. Dass Frauen im
Durchschnitt das geschriebene Wort bevorzugen, dass es dabei aber
auch ruhig heftig zur Sache und vor allen Dingen ins Detail gehen
darf, dürfte vielleicht einige überraschen. Weiterhin berichten die
Autoren in diesem Zusammenhang über das Phänomen der Fanfiction und
Erotic Romance Novels, deren Beliebtheit in den letzten Jahren durch
das Internet geradezu explodiert ist – bei einem zu nahezu 100%
weiblichen Publikum. Noch interessanter, dass auch Leserinnen und
Autorinnen auch dann noch überwiegend weiblich sind, wenn es um Sex
zwischen zwei Männern geht. In der so genannten „Slash“
Fanfiction nimmt sich frau dafür in der Regel zwei heterosexueller
Charaktere vor und „dichtet“ ihnen eine Romanze an. In der Sprache
dieser erotischen Geschichten fällt vor allem die Introspektive auf,
der Blick auf die innersten Empfindungen der Protagonisten. Aber
Vorsicht Vorurteile, hier wird nicht bloß gekuschelt: Dabei kann es
sich um subtile Romanzen handeln oder um BDSM-Beziehungen.
Dass Männer Sex zwischen Frauen
erotisierend finden, ist ja bekannt. Der „Kick“ liegt in beiden
Fällen in der Verdopplung der Reize, heißt es.
Bei Frauen
stellen die Autoren weiterhin fest, dass „wir“ differenzieren
können zwischen physischer und psychischer Lust, während Männer da
wohl tatsächlich etwas geradliniger gestrickt sind, wenn das Blut
erst mal woandershin geflossen ist...Diese Diskrepanz ist wohl der
Grund, weshalb es bisher noch kein wirksames Viagra für Frauen gibt.
Doch auch der Mann ist in seinem
Begehren ein komplexeres Wesen, als man aufgrund der üblichen
Klischees vermuten könnte. So ziehen die Herren der Schöpfung
übergewichtige Frauen untergewichtigen vor, stehen auf ältere
(„MILFs“) und „besinnen“ sich neuerdings auf weniger
durchgestylte Filme aus den 50er und 60er Jahren, die offensichtlich
authentischer rüberkommen.
Da fällt mir auf: Auch wenn das
Internet ein ganzes Panoptikum von Perversionen anbietet, so wirkt
der anonyme Blick auf die Vorlieben der Massen wiederum
geradezu...nun ja, durchschnittlich. Das hat doch irgendwie was
Erfrischendes.
Der Titel schreit einem aus
Bild-Zeitungs-Lettern entgegen „Klick!Mich!An!“. Im Original
heißt es etwas unaufgeregter „A Billion Wicked Thoughts“, zu
deutsch „Eine Milliarde schmutziger Gedanken“, was dem Inhalt
sicherlich gerechter wird. Während der Titel nach pseudo-skandalösem
Enthüllungsjournalismus klingt, war ich nämlich vom Inhalt wirklich angenehm
überrascht. Ein paar Erkenntnisse waren mir persönlich wirklich neu
oder zumindest noch nicht als wissenschaftliches Phänomen
untergekommen. Dabei ist diese kluge Analyse über Sex und das
Begehren im Internetzeitalter stets unterhaltsam und ausgesprochen
spannend zu lesen – ohne sich dabei jemals auf das Niveau jener
Bestseller zu begeben, die uns vor einigen Jahren die Welt erklären
wollten. Seriöse Sachbuchautoren wollen uns ja ohnehin nicht die
Welt erklären, sie wollen Zusammenhänge und Sachverhalte aufdecken
-. und überlassen das moralische oder weltanschauliche Urteil dem
Leser oder der Leserin. Finde ich. Und das ist hier gelungen.
Informationen des Verlags:
Klick! Mich! An! Der große Online-Sex-Report
Originaltitel: A Billion Wicked Thoughts
Originalverlag: Dutton, New York 2011
Aus dem Amerikanischen
von
Bettina
Spangler
Deutsche Erstausgabe
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag,
448 Seiten,
13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-7645-0431-1
€
16,99